Viele
Premieren, viele interessante Gäste, spannende Veranstaltungen im
Festivalzentrum und natürlich vor allem eine wunderbare Filmauswahl mit
zahlreichen filmischen Highlights: Das Filmfest Hamburg 2017 hat mich und auch meine
Teamkollegin sehr beeindruckt.
Fünfzehn
Filme habe ich mir angesehen und es hätten ruhig noch etliche mehr sein können.
Leider ist das dann neben der Berufstätigkeit auch eine Frage der Zeit,
keineswegs eine Frage des Interesses. So gut wie in diesem Jahr hat mir das
Filmfest Hamburg übrigens noch nie gefallen.
Fünf der fünfzehn Filme, die ich gesehen
habe, halte ich persönlich für überragend.
Hier
sind sie (die Links führen jeweils zur Programmseite des Filmfest Hamburg, wo
man weitere Infos erhält):
Mein
Highlight war Abbas Kiarostamis 24 FRAMES. Ein wundervoller Film, eine beeindruckende (experimentelle) Arbeit des
2016 verstorbenen iranischen Regisseurs. Der Film besteht aus 24 statischen
Bildern/Fotos, die den Rahmen bilden für Bewegtbilder, wie immer wieder Wellen,
Schnee, viele Vögel und andere Tiere. Menschen sind fast nie zu sehen,
gesprochen wird auch nicht. Es geht eine fast meditative Ruhe und eine
unglaubliche Intensität von diesen Bildern aus.
Mein zweites Highlight war das magische FLORIDA PROJECT von Sean Baker. Nachdem ich die Besprechungen dieses Films nach seiner Premiere
im Mai in Cannes gelesen hatte, wusste ich, dass ich diesen Film lieben würde. Schon
Bakers TANGERINE, den ich 2015 beim
Internationalen Filmfest Oldenburg sehen konnte, hat mir sehr gefallen. FLORIDA PROJECT ist noch viel besser
und ich hoffe, dass dieser unverbrauchte Regisseur seinen liebevollen Blick auf
Menschen, die eher abseits stehen, behalten wird. Willem Dafoe ist wundervoll.
Und die jungen Darsteller sowie Bria Vinaite (in ihrer ersten Filmrolle) sind
es auch. Ein perfekter Filmgenuss! Der Film wird im März in die deutschen Kinos
kommen. Das sollte man sich unbedingt schon mal vormerken! FLORIDA PROJECT erhielt beim Filmfest Hamburg den Hamburger
Kritikerpreis.
Nach GODLESS
von Ralitza Petrova im vergangenen Jahr hatte ich das Glück, erneut einen sehr
starken bulgarischen Film beim Filmfest Hamburg erleben zu dürfen: DIRECTIONS vom derzeit bedeutendsten
Regisseur des Landes, Stephan Komandarev. Leider konnte der Regisseur nicht
anwesend sein, wurde aber würdig vertreten durch das deutsche Produzententeam
Vera Weit und Stelios Ziannis, die viele Hintergrundinformationen zum Dreh des
Films sowie auch zur politisch-gesellschaftlichen Lage in Bulgarien gaben.
DIRECTIONS war
bereits bei mehreren Filmfestivals außerhalb Deutschlands ein Publikumsfavorit
und auch die Hamburger Besucher zeigten sich sehr angetan von diesem
exzellenten Drama, das das nächtliche Leben Sofias und die gesellschaftlichen
Zustände Bulgariens mosaikartig einfängt.
Und viel besser als Variety kann man dieses Werk eigentlich
kaum zusammenfassen: “In the many long-take interior shots in cars,
“Directions” recalls the work of Iranian masters Abbas Kiarostami and Jafar
Panahi, but its nighttime setting and the idiosyncratic individuals
it portrays also bring to mind Jim Jarmusch’s “Night on Earth.” Notably,
Komandarev’s film is less uneven than Jarmusch’s and the psychologically
insightful exchanges that make up the majority of the runtime exist to be more
than just quirky. Loosely linked as they are, they build to a choral impression
of a society that, while riven by division, corruption and the exploitation of
the poor by the rich, still somehow holds out hope for itself, perhaps because
of ordinary people like these drivers, circulating their basic human
decency around the nighttime streets like they’re the lifeblood of
the city.”
Bereits mein Start ins Filmfest Hamburg 2017 am 6.10. mit
dem zweiten Screening des Eröffnungsfilms LUCKY
im schönen Passage Kino war überaus erfreulich. Der Schauspieler und Regisseur John
Carroll Lynch (sein Regie-Debüt) war nochmals zu Gast und hatte einen wirklich
tollen Film nach Hamburg mitgebracht. Harry Dean Stanton ist wundervoll in einer
seiner letzten Rollen und wird zukünftig sehr vermisst werden.
THE RIDER (USA 2017) von Chloé Zhao war mein Abschlussfilm und es wurde ein
weiteres Highlight. Die Laiendarsteller geben dem Film eine große Authentizität.
Und bewegend und sehr schön gefilmt ist die Geschichte des Rodeo-Reiters, der
nach einer schweren Verletzung seinen Beruf nicht mehr ausüben sollte, es aber
dennoch zunächst nicht lassen kann, allemal. THE RIDER erhielt bei
Filmfest Hamburg den Art Cinema Award.
Sehr gut
Pat Collins‘ SONG OF GRANITE (Irland/Kanada 2017) über den irischen Folkmusiker Joe Heaney,
der sein Leben dem traditionellen gälischen Sean-nós-Gesang widmete. Pat
Collins, ein Dokumentarist irischer Vergangenheit und Traditionen, zeigt uns
die traurige Seele Irlands. Ein ruhiger, poetischer Film in herrlichen
Schwarzweiß-Bildern. SONG OF GRANITE
ist übrigens Irlands Kandidat für den Oscar in der Kategorie Bester
Fremdsprachiger Film (es wird im Film zumeist Gälisch gesprochen und gesungen).
LETTERS FOR AMINA des dänischen Regisseurs Jacob Bitsch (koproduziert von
der Hamburger Produktionsfirma TamTam Film). Ein harter, düsterer und ambitionierter
Psychothriller mit einem starken Hauptdarsteller.
UNTIL THE BIRDS RETURN des algerischen Regisseurs Karim Moussaoui. Drei lose miteinander verbundene Geschichten aus dem Algerien der
Gegenwart, die sich zu entdecken lohnen.
TUKTUQ (Kanada
2017) von Robin Aubert. Der Regisseur, der selbst die Titelrolle des Fotografen
übernommen hat, der im Auftrag der kanadischen Regierung das Leben der in der
Provinz Nunavik lebenden Inuit dokumentieren soll, macht im Verlauf des Films
sehr deutlich, wie Politiker vorgehen, um mit der aus wirtschaftlichen Gründen
geplanten Umsiedlung der Inuit bei ihren Wählern auf Wohlwollen zu stoßen.
Regierungspläne für eine solche Umsiedlung in dieser Region gibt es
tatsächlich.
THE KILLING OF A SACRED DEER von Yorgos Lanthimos (THE LOBSTER) mit Colin Farrell und Nicole Kidman. Ein
erwartungsgemäß sehr eigenwilliger Film, kühl und sehr künstlich (nicht nur die
Dialoge). Empathie kommt für keine(n) der Protagonisten auf, eigentlich gönnt
man ihnen das alles, was ihnen passiert. Aber vergessen wird man diesen Film so
schnell nicht. In Cannes wurde THE
KILLING OF A SACRED DEER mit dem Preis für das Beste Drehbuch
ausgezeichnet. Der Film kommt im Januar in die deutschen Kinos.
Nele Wohlatz‘ THE FUTURE PERFECT: Charmant, natürlich und humorvoll ist dieser Film über eine
junge Chinesin, die versucht, sich in Argentinien sprachlich durchzusetzen. Es
wird spürbar gemacht, wie die begrenzten Möglichkeiten sich in der Fremdsprache
(hier Spanisch) auszudrücken, die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit
unserer Umgebung verändern. THE FUTURE
PERFECT wurde mit dem Sichtwechsel Filmpreis ausgezeuchnet.
A SKIN SO SOFT vom kanadischen Filmemacher Denis Côté, dessen „Dokumentarfilme“ BESTIAIRE und QUE TA JOIE DEMEURE ich sehr schätze, was
der eigentliche Grund war, mir seinen aktuellen Film über sechs Bodybuilder
anzusehen. Wie schon in den beiden genannten Filmen lenkt der Regisseur unseren
Blick auf scheinbar nebensächliche Handlungen (dorthin, wo man möglicherweise
nicht hinsehen würde, nicht als Filmemacher und auch nicht als Zuschauer),
konzentriert sich mehr auf die gewöhnlichen Tagesabläufe der sechs Männer und lässt
mögliche Fragen nach dem Warum unbeantwortet. Diese Beantwortung ist auch
erkennbar nicht sein Anliegen, er lässt uns nur beobachten, wenngleich er im Q&A
dann doch ein wenig über seine Einschätzung zur Motivation der Bodybuilder verriet.
Denis Côté stand
dann am 12.10. im Festivalzelt auf dem Allende-Platz in der Diskussionsrunde
UNZENSIERT nochmals Rede und Antwort. Und es ist immer ein Genuss, ihm
zuzuhören.
Mit kleinen Abstrichen
Sehr
ehrenwert ist DIE UNSICHTBAREN – WIR WOLLEN LEBEN von Claus Räfle. Der
Film spielt in den Jahren 1943 bis 1945 und erzählt die Geschichte von Juden,
die sich in Berlin versteckten, um ihrer Deportation zu entgehen. Insgesamt
hielten sich zu diesem Zeitpunkt rund 7000 Juden im von den Nazis als
„judenfrei“ bezeichneten Berlin auf. Stellvertretend für diese Menschen und
ihre Helfer zeigt Räfle das Schicksal mehrerer Personen, deren reale Vorbilder
in Interviews (dokumentarische Einblenden) zu sehen und hören sind. Eine dieser
Zeitzeuginnen, Hanni Levi, war
bei der Filmvorführung zu Gast.
Man
merkt dem Film an, dass der Regisseur eher Dokumentarfilmer ist und üblicherweise
fürs Fernsehen arbeitet und auch dass gleich vier Fernsehsender (u.a. der NDR)
beteiligt sind, aber sei’s drum, es ist gut und wichtig, diese Geschichten zu
erzählen.
DER MANN AUS DEM EIS mit Jürgen Vogel, Action vor grandioser Naturkulisse, für einen deutschen Film
erstaunlich bildgewaltig. DER MANN AUS
DEM EIS ist eine fiktive Geschichte des Ötzi, der 1991 immerhin rund 5300
Jahre nach seinem Tod aus einem Gletscher in den Alpen auftauchte. Gesprochen
wird wenig und das auch nur in einer fiktiven Sprache, die man nicht versteht
und auch nicht verstehen muss.
Bei mir durchgefallen
François Ozons L’AMANT DOUBLE. Der fing etwas langweilig an,
steigerte sich dann aber mit dem spannenden Bruderzwist, bis ich etwa gegen
Mitte des Filmes nur noch dachte, dieser Zwist sei jetzt doch ein wenig zu sehr
auf die Spitze getrieben worden. Wie sich das Ganze dann schlussendlich
auflöst, ließ mich recht ratlos und etwas genervt zurück. Während des
Filmverlaufs zu viele falschen Fährten gelegt, sodass schlussendlich nichts
mehr zusammenpasst und nichts mehr stimmig ist. Wer Absurdes mag ….
Peter Bradshaw über L'Amant Double: “Camp-classicstatus beckons for François Ozon's softcore silliness”
Eine Rahmenveranstaltung beim Filmfest Hamburg sei hier
stellvertretend für diverse Panels und Talkrunden im Festivalzentrum erwähnt, das
von Crew United organisierte Panel zur Frage WOZU FILMFESTIVALS? Sehr interessant (siehe Video unten). Ich
jedenfalls möchte Filmfestivals nicht missen, schon gar nicht das Filmfest
Hamburg, denn es werden nun mal sehr viele ausgezeichnete Filme in der ganzen
Welt gedreht, von denen man einen Großteil nie in regulären Kinoprogrammen wird
finden können. Zudem bieten Filmfestivals die Möglichkeit mit diversen
Filmemachern aus aller Welt ins Gespräch zu kommen, sehr ausführlich klappt das
übrigens immer, wenn man die letzten Vorführungen des Tages besucht, da keine
weitere Filmvorführung im Kinosaal ansteht und niemand zum Ende drängt. Das
habe ich besonders im Anschluss an die Screenings von DIRECTIONS und UNTIL THE
BIRDS RETURN erleben können.
Hier freut sich schon jemand auf das Filmfest Hamburg
2018, ob es noch besser werden wird als in diesem Jahr, sei dahingestellt. Das
ist selbstredend auch davon abhängig, wie viele gute Filme im Laufe des Jahres
2018 auf den Markt kommen. Das Team vom Filmfest Hamburg hat jedenfalls ein bewundernswert
gutes Händchen bei der Filmauswahl, darauf kann man sich alljährlich verlassen.
Dafür ein herzliches Dankeschön!
Dass die Hamburger Politik das Engagement der
Festivalmacher, die nicht nur uns Filmfreunden, sondern auch der Stadt Hamburg
einen großen Dienst erweisen, noch viel besser unterstützen könnte (müsste), das
beschreibt hier Stefan Grund für DIE WELT.