Sonntag, 7. Oktober 2018

Rückblick auf ein tolles Filmfest Hamburg 2018


Es begann bei herrlichem September-Wetter am 27.9. und endete bei herrlichem Oktober-Wetter am 6.10. und war ein tolles Filmfest.
Sechzehn Filme konnte ich ansehen und es gab keine Ausfälle, sondern viel, viel großes Kino.


Meine neun Favoriten (beim Klick auf den Titel gelangt man zu mehr Infos und Trailern auf der Webseite des Filmfest Hamburg):

LETO (Russland 2018), Kirill Serebrennikows musikalische Reise durch die Rockszene St. Petersburgs in den 1980er Jahren. Ein lebensbejahender, berührender, einfach schöner Film, den man einfach lieben muss, wenn man Musik und insbesondere die Musik der 80er Jahre mag. Echtes Highlight beim Filmfest Hamburg 2018, das im Kinosaal mit reichlich Beifall und Jubel bedacht wurde. Toll!

BUENOS AIRES AL PACIFICO (Argentinien 2018) von Mariano Donoso, ein wirklich sehr schönes filmisches Essay mit herrlichen, poetischen Schwarzweißbildern.


ROMA (Mexiko 2018) von Alfonso Cuarón. Was für ein Genuss, diesen wundervoll in Schwarzweiß fotografierten Film beim Filmfest Hamburg auf der größten Leinwand Hamburgs im Saal 1 des CinemaxX Dammtor ansehen zu können.

"Was ist Kino?" fragte Katja Nicodemus in der ZEIT, nachdem ROMA in Venedig den Goldenen Löwen gewonnen hatte und beantwortete ihre Frage sogleich: „Diese Frage kann man nach den 75. Filmfestspielen von Venedig auch mit einem einzigen Wort beantworten: Roma. In aller Stille entwickelt der Gewinnerfilm des Regisseurs Alfonso Cuarón eine erzählerische Wahrhaftigkeit – und hinterlässt einen berührenden Nachhall.“ 

Hoffen wir, dass ROMA, obgleich es eine Netflix-Produktion ist, dennoch den Weg auf Kinoleinwände findet, denn das ist der richtige Platz für dieses Meisterwerk.   

THE IMAGE YOU MISSED (Irland 2018) von Dónal Foreman war meine erste Wahl nach Durchsicht des Programms des Filmfest Hamburg und ich wurde keineswegs enttäuscht. Es ist ein sehr persönlicher Essayfilm, in dem Foreman das Erbe seines Vaters, des Dokumentarfilmers Arthur MacCaig, aber auch seine niemals wirklich vorhandene Beziehung zu ihm, aufarbeitet. Doch der Film ist mehr als ein filmischer Dialog zwischen Vater und Sohn, er erinnert auch an den Nordirlandkonflikt und die IRA. Die Irish Times hat sich sehr ausführlich mit THE IMAGE YOU MISSED auseinandergesetzt. 


FIRST MAN / AUFBRUCH ZUM MOND (USA 2018, Deutschlandpremiere beim Filmfest Hamburg) von Damien Chazelle mit Ryan Gosling als Neil Armstrong. Chazelle hat die Biografie „First Man: The Life of Neil A. Armstrong“ von James R. Hansen verfilmt (die mir nicht bekannt ist) und daher ist sein Film eher ein Biopic eines Mannes geworden, der sich dem Tod seiner kleinen Tochter nicht stellen kann, aber den eigenen Tod nicht fürchtet. Sehr spannend fand ich die recht realistische Darstellung der aufreibenden Vorbereitungen der ersten Mondmission, die diversen Testflüge in recht klapprig anmutenden (sehr engen) Raumschiffen mit großen technischen Problemen, die mehreren Astronauten das Leben kosteten, bevor Apollo 11 dann auf dem Mond landen und Neil Armstrong als erster Mensch seinen Fuß auf unseren Trabanten setzen konnte. Der Wettlauf im Weltraum mit der Sowjetunion zu Zeiten des Kalten Krieges kommt auch nicht zu kurz. Ein wirklich empfehlenswerter Film, der auch visuell überzeugt. Und ich bin immer noch fasziniert davon, wie es gelingen konnte, im Jahr 1969 mit einer für heutige Verhältnisse vorsintflutartigen Technik auf dem Mond zu landen und vor allem auch wieder von dort wegzukommen. FIRST MAN kommt am 8.11.2018 in deutsche Kinos.

A LAND IMAGINED (Singapur 2018) von Yeo Siew Hua. In diesem Film verschwimmen Realität und Traum zwischen starken Bildern eines dystopischen Singapurs. Yeo Siew Hua, der ein großer Fan des Film Noir ist, wie er im Q&A kundtat, macht es den Zuschauern nicht ganz leicht, das aber vermag durchaus zu faszinieren. Neben den dokumentarischen Elementen der Bauarbeiten zur Landgewinnung des Stadtstaates Singapur, spielt auch die Ausbeutung der Gastarbeiter eine gewichtige Rolle. A LAND IMAGINED erhielt beim Filmfestival in Locarno kürzlich den Hauptpreis und ist für mich eine echte Entdeckung. Ich bin sehr gespannt auf weitere Werke dieses jungen Regisseurs.


VILLE NEUVE (Kanada 2018). Sehr schön animiert und poetisch in Wort und Bild von Félix Dufour-Laperrière, dessen filmisches Essay TRANSATLANTIC mich 2015 beim Filmfest Hamburg schon außerordentlich beeindruckt hat. Man mag sich die Frage stellen, warum die Geschichte eines geschiedenen Paares, das in einem abgelegenen Haus am Meer wieder zueinander findet, verwoben mit dem Referendum zur Unabhängigkeit Québecs im Jahr 1995 in animierter Form erzählt werden muss. Sie muss es sicherlich nicht, aber mich hat gerade diese künstlerische Form dazu gebracht, mir den Film anzusehen. Und ich bereue es keineswegs.

WE THE ANIMALS (USA 2018) von Jeremiah Zagar. Sehr nach meinem Geschmack. Zagar (eigentlich ein renommierter Dokumentarfilmer) hat den poetischen Roman von Justin Torres gekonnt umgesetzt. Es war das zweite Screening des Films beim Filmfest Hamburg im ausverkauften Saal 2 des CinemaxX Dammtor. Der Applaus nach der Vorführung (ohne Gast) zeigt, dass dieses berührende und bildlich toll komponierte Drama um drei Brüder in schwierigen familiären Verhältnissen, das Erinnerungen an Terrence Malicks THE TREE OF LIFE aufkommen lässt, auch anderen Besuchern gefallen hat.

GEGEN DEN STROM von Benedikt Erlingsson, politische Komödie vor der traumhaften Kulisse Islands mit der tollen Darstellerin Halldóra Geirhardsdóttir, die am Donnerstag das Filmfest eröffnete. Ich hatte die Gelegenheit, den Film in seiner zweiten Vorstellung im Passage Kino mit vielen weiteren begeisterten Besuchern anzusehen. Halldóra Geirhardsdóttir spielt eine Umweltaktivistin, die mit gewagten und spektakulären Aktionen ganz allein der lokalen Aluminiumindustrie den Garaus machen möchte.
Da kann ich jetzt wirklich nur alle Filmliebhaber, die GEGEN DEN STROM beim Filmfest Hamburg zweimal verpasst haben, beglückwünschen, dass Pandora Film Verleih ihn am 13.12.2018 in deutsche Kinos bringen wird. Dann aber sollte man Versäumtes unbedingt nachholen. Das ist wirklich ein eindrucksvoller Film. Auf ein informatives und amüsantes Q&A mit Halldóra Geirhardsdóttir wird man allerdings möglicherweise verzichten müssen.

GEGEN DEN STROM wird übrigens für Island ins Oscar-Rennen gehen und wurde beim Filmfest Hamburg mit dem Art Cinema Award des Internationalen Verbands der Filmkunsttheater (C.I.C.A.E.) ausgezeichnet.


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Auch schön bzw. spannend oder interessant:

MALILA: THE FAREWELL FLOWER (Thailand 2017) von Anucha Boonyawatana im ziemlich gut gefüllten kleinen Kinosaal des Abaton. Ein wirklich sehr schöner, fast meditativer Film, der für Thailand ins Oscar-Rennen gehen wird.

THE IMAGE BOOK / LE LIVRE D‘IMAGE (Schweiz 2018), Jean-Luc Godards fragmentarische Momentaufnahme der aktuellen Weltsituation im ausverkauften kleinen Saal des Abaton. Godard ist immer noch Godard, auch wenn seine filmischen Wege heutzutage in eine noch experimentelle Richtung gehen. Wer aber die Kritiken nach der Premiere des filmischen Essays im Mai in Cannes ein wenig verfolgt hat, wusste worauf er sich einließ und das galt wohl für den Großteil der Besucher. Ein wilder Super Cut , ein Gedankenfluss in Bildschnipseln und Worten, nicht wirklich zu fassen, sondern für Interpretationen und reichlich Diskussionen offen. Bevor man sich an diese Arbeit macht, kann man es vielleicht auch so zusammenfassen wie Indie Wire: “Have all the fun you want, because everybody’s doomed anyway.“ 

HOTEL BY THE RIVER (Südkorea 2018), melancholisches Drama mit humorvollen Momenten und sehr schönen Schwarzweißbildern von Hong Sang Soo.

WE, THE DEAD (Malaysia 2017) von Edmund Yeo. Eine junge Frau möchte nach Taiwan, aus Myanmar flüchtete Rohingya scheinen ihr eine gute Gelegenheit zu bieten, als Schlepperin an das nötige Geld dafür zu kommen. Auch wenn der Film das Leid der Rohingya teils vermitteln kann, ist es doch eher ein Film über die Protagonistin Ling und ihr persönliches Leiden, wobei nicht klar wird, warum sie unglücklich ist und unbedingt von Malaysia nach Taiwan auswandern möchte. Die zweite Hälfte des Films dreht sich dann auch nur noch um sie und den jungen Krankenpfleger, der sie auf ihrer Flucht vor den Menschenhändlern, die sie als Verräterin betrachten, begleitet. Eingeschlossen ist eine recht lange Rückblende, in der man diesen Krankenpfleger bei der Arbeit sieht, wo er eine junge Patientin pflegt und von der er beim Treffen mit Ling glaubt, es sei Ling gewesen. So ganz fügt sich diese Rückblende nicht ein und somit bleiben die Teile des Filmes ein wenig unzusammenhängend.

THE PLUTO MOMENT (China 2018) von Zhang Ming über eine Reise von Filmemachern in die chinesische Provinz. Einige sehr humorvolle Momente, allerdings fehlte mir etwas die Tiefe in den Charakteren, die bei ihren Filmaufnahmen für einen Dokumentarfilm auf ungeahnte Hindernisse stoßen und denen auf ihren recht beschwerlichen Wegen Zeit für eine Selbstbesinnung bliebe. Sehr gelungen war jedoch die Szene, in der der Arthouse-Regisseur Zhun sich von einem einfachen Landbewohner sagen lassen muss, es gehe ihm offenbar gut, er sei fett und gut angezogen. Genau das hatte dieser Regisseur dem Regisseur eines Blockbusters zuvor vorgeworfen. Erfreulich auch, dass die wohl interessanteste Figur die Kamerafrau ist, die den Regisseur zwar aufgrund seiner Arbeit als Regisseur bewundert, ihm menschlich jedoch nicht allzu viele Qualitäten zuerkennt.

DOGMAN von Matteo Garrone – ein naiver Hundefriseur in einer italienischen Gesellschaft, die von Armut, Gier nach Geld, Kriminalität und Zerfall geprägt ist. Marcello Fonte spielt den Hundepfleger und Teilzeit-Drogendealer, der die Hunde (auch wenn sie fast größer sind als er selbst und recht böse erscheinen) sämtlich zur Ruhe bringen kann, wirklich großartig, der Preis für den besten Darsteller in Cannes scheint schon sehr gerechtfertigt. Was Marcello bei den Hunden erreicht, will ihm aber so ganz und gar nicht mit dem gewalttätigen Kriminellen Simone gelingen, der den Ort tyrannisiert und dessen Freund Marcello so gern wäre. Ein Film mit Männern und Hunden, Frauen tauchen in DOGMAN lediglich als Prostituierte und Mütter auf. So gebührt dann die schönste Szene auch der Rettung eines Hundes aus einem Gefrierfach.


Nicht ganz überzeugend:

Dominga Sotomayor Castillos TOO LATE TO DIE YOUNG (Chile 2018), für den sie in Locarno als erste Frau den Preis für die beste Regie einstreichen konnte, hat mich persönlich etwas enttäuscht. Zugegeben ein sehr schön fotografiertes Drama mit Bildern, die teils wie Gemälde anmuten, das beeindruckt schon, die Story fand ich persönlich allerdings recht dünn. Mit Coming-Of-Age-Filmen tue ich mich gelegentlich schwer, so auch mit der Story in TOO LATE TO DIE YOUNG, dessen Titel ich auch eher unpassend finde. Eine Gruppe von Außenseitern schafft sich im Sommer 1990 weit entfernt vom städtischen Treiben am Fuße der Anden ein neues Leben. Das klingt eigentlich sehr gut, zumal in chilenischen Zeiten kurz nach dem Ende der Diktatur. Die Tat von Gegnern der Kommune (eine absichtlich blockierte Wasserleitung) wird jedoch nicht näher verfolgt, stattdessen widmet sich die Regisseurin und Drehbuchautorin dem jungen Mädchen Sofia, die bei ihrem Vater in der Kommune lebt und gerne zu ihrer Mutter nach New York gehen würde. Die Mutter scheint daran dummerweise kein Interesse zu haben und so hängt sich Sofia an einen Mann, der mindestens doppelt so alt ist wie sie und der nur sexuelles Interesse an ihr hat. Den Jungen Luca, der in sie verliebt ist, weist sie hingegen zurück. Dominga Sotomayor Castillo ist selbst in einer Kommune aufgewachsen und diese Geschichte ist möglicherweise ein bisschen auch ihre Geschichte. Geschmäcker und Interessen sind verschieden, mich hat dieses Werk nicht so ganz angesprochen.


Mir ist bewusst, dass ich beim Filmfest Hamburg 2018 tolle Filme gesehen habe (mehr als sechzehn konnten es neben der Berufstätigkeit leider kaum werden), mir ist jedoch auch bewusst, dass ich diverse tolle Filme verpasst habe, beispielsweise fast alle mit Preisen ausgezeichneten Produktionen (alle Infos dazu gibt es hier), nämlich:

SIBEL (Hamburger Produzentenpreis für Europäische Kino-Koproduktionen)
DAS SCHÖNSTE PAAR (Hamburger Produzentenpreis für deutsche Kinoproduktionen)
AUFBRUCH IN DIE FREIHEIT (Hamburger Produzentenpreis für deutsche Fernsehproduktionen)
UNSERE KÄMPFE (Preis der Filmkritik)  
LITTLE TICKLES (NDR-Nachwuchspreis)  
ON HER SHOULDERS  (Der Politische Film der Friedrich-Ebert-Stiftung) 
AMIN (Sichtwechsel Filmpreis)
SOLSIDAN (Commerzbank-Publikumspreis im Rahmen der Sektion »Eurovisuell«)
SUPA MODO (MICHEL Filmpreis)
DREI GESICHTER (Iran 2018, der im Rahmen der Verleihung des Douglas-Sirk-Preises an Jafar Panahi gezeigt wurde).

Auch auf TRAUTMANN habe ich zugunsten von LETO verzichten müssen, konnte allerdings zumindest bei KLAPPE AUF (Talk-Reihe des BFFS) Marcus H. Rosenmüller, Regisseur und Drehbuchautor des Films, im Gespräch mit Sebastian Faust erleben.


Ebenfalls durch das Setzen von Prioritäten verloren gegangen:

MONROVIA, INDIANA (USA 2018), der neue Dokumentarfilm von Frederick Wiseman. 
DER TRAFIKANT von Nikolaus Leytner (Österreich 2018) 
THE WILD PEAR TREE (Türkei 2018) von Nuri Bilge Ceylan. 
NUR EIN KLEINER GEFALLEN von Paul Feig (USA 2017). 
THE FAVOURITE (GB 2018) von Yorgos Lanthimos. 

Und viele mehr ….  

Vielen Dank für das erneut wundervolle Filmfest Hamburg 2018 ! Ich freue mich auf die Ausgabe 2019, die vom 26.9. bis zum 5.10. steigen wird!