Dieses Filmfestival ist mehr als einen Besuch wert und lädt
mit seiner angenehm sympathischen und gewinnenden Atmosphäre zur
Wiederholungstat ein. Wer einmal dabei war, der möchte eigentlich immer
wiederkehren. Dabei habe ich bisher immer die als legendär beschriebenen Partys
verpasst ….
Das Internationale Filmfest Oldenburg steht für ambitioniertes und risikofreudiges Independent-Kino jenseits von Blockbuster-
und Mainstream-Produktionen, weshalb es auch den Beinamen „deutsches Sundance“
erhielt, dem es alle Ehre macht mit Weltpremieren und auch internationalen
Premieren. Mit insgesamt über 16.000 Zuschauern in den Festivalkinos, der
EWE-Arena, dem Oldenburgischen Staatstheater und in den weltweit einzigartigen
JVA-Vorführungen, wo Gäste und Insassen gemeinsam Kino erleben können, fand das
Filmfestival auch in diesem Jahr regen Zuspruch.
Die 24. Ausgabe des Festivals eröffnete am 13.9. mit der
Weltpremiere von Kubilay Sarikayas und Sedat Kirtans Erstlingsfilm FAMILIYE (D 2017), der von über 1500
Zuschauern in der ausverkauften EWE Arena begeistert gefeiert wurde. Zu diesem Zeitpunkt
wusste natürlich noch keiner der Besucher, dass er den späteren Gewinner des Hauptpreises,
des German Independence Award, gesehen hatte (dieser Preis beruht auf dem Votum
der Zuschauer und wird aus zehn nominierten Filmen ermittelt). Vielleicht hat
es der eine oder andere dann doch schon geahnt oder zumindest erhofft. Bei der
Preisverleihung wurden die beiden Filmemacher jedenfalls erneut stürmisch
gefeiert.
Eine weitere gefeierte Premiere war Santiago Rizzos QUEST
(USA 2017), in dem der
diesjährige Tribute-Ehrengast
Lou Diamond Phillips
eine tragende Rolle spielt. Der jugendliche Hauptdarsteller Gregory Kasyan wurde
für seine Rolle mit dem Seymour Cassel Award
für den besten männlichen Darsteller belohnt. Für ihn nahm bei der
Abschlussgala der Regisseur Santiago Rizzo den Preis entgegen. Rizzo hat in QUEST seine eigene Lebensgeschichte
packend und authentisch verfilmt.
Der Seymour
Cassel Award für die beste Darstellerin ging
an Lindsay Burdge für ihre Darstellung in Nathan Silvers THIRST STREET (F/USA 2017).
Das Advisory Board ehrte zudem den Film BLIND UND HÄSSLICH (D 2017) von Tom Lass
mit einer Special Mention und lobte dabei besonders die „starke Performance des
Ensembles“. Einige Besucher unserer Filmreihe DaF haben möglicherweise Tom Lass‘
PAPA GOLD im METROPOLIS Kino Hamburg sehen können, den wir im Oktober 2013 gezeigt haben.
Die Kurzfilmjury, bestehend aus der Produzentin Martina Valentina Baumgartner, dem Schauspieler Nic Romm und dem Regisseur Benjamin Teske, vergab den German Independence Award für den Besten Kurzfilm an Thierry Besselings und Loic Tansons SUR LE FIL (Luxenburg 2017). Da ich den Film bei den Sunday Shorts
(neben weiteren starken Kurzfilmen) ansehen konnte, kann ich bestätigen, dass
es eine sehr gute Wahl ist.
Eine lobende Erwähnung fand die Kurzfilmjury zudem für Philipp Andonies
VAND (Schweiz 2016).
Ein Kurzfilm, der mit einer Lauflänge von nur etwa 60 Sekunden seinem Genre alle
Ehre macht. Für die Geschichte eines Fischers, der auf einem See zur Ruhe und
Besinnung kommen kann und sich dort seiner Probleme entledigt, erhielt Andonie
bei der Preisverleihung während der Closing Night Gala von der Jury eine zu
seinem Film passende Belohnung (siehe Foto unten).
Die diesjährige Retrospektive des Filmfest Oldenburg galt
erstmalig einem Filmproduzenten, nämlich Edward R. Pressman,
der für 50 Jahre Filmschaffen aus Hollywood steht (u.a. BADLANDS, WALL STREET, AMERICAN PSYCHO). Wie auch dem zweiten
Ehrengast, Lou Diamond Phillips, wurde auch Edward R. Pressman
bei der Filmfest-Gala des Festivals im Oldenburger Staatstheater der German
Independence Honorary Award verliehen.
Für großes Aufsehen sorgte auch ein deutscher
Schauspieler: Moritz Bleibtreu, Ko-Produzent des Films FAMILIYE, enthüllte im Rahmen des Festivals den 11. Stern auf dem OLB-Walk of Fame.
Ich persönlich habe erneut beim Filmfest Oldenburg sehr
starke Independent-Filme entdecken können, von denen ich mir eigentlich auch
noch viel mehr in unseren Hamburger Kinos wünschen würde. Außerordentlich gut gefallen
haben mir:
·
Karl R. Hearnes TOUCHED (Kanada 2017), ein sehr intensives Drama mit einem
beeindruckenden Hauptdarsteller (Hugh Thompson), das irgendwo zwischen Crime,
Drama und Mystery angesiedelt ist
·
Simon Rumleys CROWHURST (GB 2017) über den unerfahrenen Segler Donald Crowhurst,
der im Jahr 1968 aufgrund finanzieller Probleme die erste alleinige Nonstop-Umsegelung
der Welt riskieren will, denn es winkt eine Prämie in Höhe von 5000 Pfund. Luis
Bunuels Surrealismus lässt in diesem eindringlichen Film grüßen.
·
MIDNIGHTERS (USA 2017) vom Regisseur der Serie THE WALKING DEAD, Julius
Ramsay. Ein
harter Thriller, der sich immer tiefer in eine Spirale der Gewalt dreht und die
Abgründe menschlicher Gier und Boshaftigkeit offenlegt.
·
IN
THE FLESH (Thailand 2017) von Kong Pahurak über ein von Krieg
zerrüttetes Land, in dem die Menschen sich an strenge Regeln halten müssen und
dem sie nicht entfliehen können. Doch die 17jährige Daryn versucht es dennoch –
mit schlimmen Konsequenzen. Der Film ist Kong Pahuraks außerordentlich starkes,
größtenteils in Schwarzweiß gedrehtes, Debüt. Im Q&A gab er an, dass er
seine Abschlussarbeit über Ingmar Bergman geschrieben habe.
·
Kurzfilm DIE
BESONDEREN FÄHIGKEITEN DES HERRN MAHLER (D 2017) von Paul Philipp. Der Film
spielt in der DDR des Jahres 1987 und André M. Hennicke versucht als Sonderermittler
der Volkspolizei auf seine besondere Art den Fall eines verschwundenen Jungen
aufzuklären.
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Kurzfilm HOLD
ON (Niederlande 2017) von Charlotte Scott-Wilson. Eine junge Cellistin
kämpft mit Selbstzweifeln und versucht auf verschiedene Weise ihre Unsicherheit
und Panik während der Konzerte des Orchesters abzulegen.
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Die beeindruckende Darstellung einer
möglichen Zukunft der Kunst (in diesem Fall des Films), die nicht mehr von
Menschen erschaffen wird, sondern von einer KI, die perfekte Filme auf Basis
von Zuschauerreaktionen errechnet und auswirft. Eine beängstigende Zukunft,
nicht nur für die Protagonistin (eine Filmemacherin): Kurzfilm REAL ARTISTS (USA 2017, Cameo Wood).
·
Mein Favorit beim diesjährigen Filmfest
Oldenburg (ich habe allerdings eine ganze Menge anderer Filme nicht sehen
können, u.a. DIE NILE HILTON AFFÄRE),
der zur herrlichen Mitternachtszeit gezeigt wurde: THE ENDLESS (USA 2017) von Justin Benson und Aaron Moorhead, die
auch die Hauptrollen übernommen haben. Benson und Moorhead spielen zwei Brüder,
die vor zehn Jahren nur knapp dem Massenselbstmord ihrer Sekte entkommen
konnten. Als sie vor ihrem Haus eine Videokassette mit Aufnahmen der Mitglieder
der Sekte finden, die offenbar noch am Leben sind, wollen sie der Sache auf den
Grund gehen. Was sie dann erleben werden, wird über ihre Zukunft entscheiden. Ein
ruhiger Horrorfilm, der erst allmählich den Wahnsinn im Tal der Sekte offenbart
und der mich immer noch ein wenig beunruhigt. Eine Geschichte, wie sie auch von H.
P. Lovecraft hätte ersonnen haben können.
Regina Nickelsen (Filmteam Colón)
Fotos: Regina Nickelsen