Sonntag, 11. Oktober 2015

Ein Rückblick auf „mein“ Filmfest Hamburg 2015



Fünfzehn Filme sind es geworden, die ich mir beim Filmfest Hamburg 2015 ansehen konnte, und die meisten davon haben mir gut bis sehr gut gefallen. 

Ich kenne die offiziellen Zahlen noch nicht, glaube jedoch, dass auch das diesjährige Filmfest äußerst gut besucht war. Ich habe diverse komplett ausverkaufte Vorstellungen erlebt und viele Menschen vor und in den Kinos gesehen. Sehr beeindruckend fand ich beispielsweise, dass Frederick Wisemans 190 Minuten langer Dokumentarfilm IN JACKSON HEIGHTS über das New Yorker Viertel Jackson Heights bei seinem zweiten Screening im Metropolis Kino komplett ausverkauft war. Und das ist nur ein Beispiel dafür, wie attraktiv so ein Filmfestival sein kann, wie es Menschen in Filme zieht, die sie sonst vielleicht niemals angesehen hätten.
Die Programmauswahl des Filmfest Hamburg hat auch wieder gestimmt, es war für jeden etwas dabei, von Filmen für echte Cineasten wie TRANSATLANTIC (eine poetische Atlantiküberquerung auf einem Frachter von Felix Dufour-Laperriere) sowie SAMURAY-S  des argentinischen Regisseurs Raúl Perrone bis hin zu den Fernsehproduktionen in der Sektion 16:9, eine sehr beliebte Sektion übrigens, wenngleich von mir nicht besucht. 

Ein wenig enttäuscht war ich vom Angebot an deutschsprachigen Produktionen, wofür das Filmfest Hamburg nicht verantwortlich zeichnet, denn es scheint ganz allgemein ein eher schwaches Jahr für den deutschen/deutschsprachigen Film zu sein, mit einigen Ausnahmen natürlich, beispielsweise Andreas Dresens ALS WIR TRÄUMTEN, den wir am 14.10. in unserer Filmreihe DaF  im Metropolis Kino zeigen werden. Beim Filmfest Hamburg haben wir leider nichts für DaF entdecken können. Die Hoffnung, dass vielleicht die Verfilmung des Martin-Suter-Romans DIE DUNKLE SEITE DES MONDES in Frage kommen könnte, hat sich leider zerschlagen, denn dieser Film ist nun ausgerechnet der einzige meiner fünfzehn Filme, der mir so gar nicht gefallen hat. 
Einen Lieblingsfilm habe ich aber natürlich auch unter meinen fünfzehn, und zwar MEMORIES OF THE WIND/RÜZGARIN HATIRALARI (Türkei, Georgien, Deutschland, Frankreich 2015) von Özcan Alper. Die Geschichte des armenischen Dissidenten Aram, der zum Ende des Zweiten Weltkriegs aus Istanbul fliehen muss und auf seinem Weg in die Sowjetunion zunächst Unterschlupf bei einem Ehepaar in einer ländlichen Gegend an der Grenze zu Georgien findet. Wunderschön gefilmt und vertont mit einer zeitlosen Geschichte. Ich hoffe sehr, mehr Filme von diesem Regisseur entdecken zu können.
Und das war meine Filmauswahl beim Filmfest Hamburg 2015. Wenn man den Filmtitel anklickt, gelangt man auf den Filmeintrag im Archiv des Filmfests, wo es mehr Informationen, Links, Fotos und die jeweiligen Filmtrailer gibt.

Sehr gut:
MEMORIES OF THE WIND (Türkei, Georgia, D, F 2015) von Özcan Alper
MEMORIES OF THE WIND ist die sehr schön gefilmte und ruhig erzählte Geschichte eines armenischen Dissidenten, Oppositionellen, Malers und Dichters namens Aram, der im Jahr 1943, als die Türkei mit Nazideutschland kooperiert, Istanbul verlassen muss und in die Sowjetunion fliehen möchte. In Rückblenden sehen wir Aram im Jahr 1915 als Jungen während des Genozids an den Armeniern.
TRANSATLANTIQUE (Kanada 2014) von Felix Dufour-Laperriere 
Poetischer Essay-Film gefilmt in Schwarzweiß auf einem Frachter, der von Antwerpen nach Montreal fährt. Für den Zuschauer eine fast meditative Reise über den Atlantik. Tolles Sound-Design und ebensolche Bilder. Das habe ich schon in LEVIATHAN (USA 2012) von Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel genossen. Von Filmen dieser Art hätte ich gern viel mehr!

LIFE ACCORDING TO AGFA (Israel 1992) von Assi Dayan
Ein in Schwarzweiß gedrehter Film, der in einer Bar in Tel Aviv spielt. Die Gäste und Angestellte repräsentieren einen Mikrokosmos der israelischen Gesellschaft. Ein wirklich toller Film, der in der Sektion Deluxe, der Länder-Retrospektive ISRAEL, lief. 

THE END OF THE TOUR (USA 2015) von James Ponsoldt 
Der Film basiert auf dem Buch “Although Of Course You End Up Becoming Yourself: A Road Trip with David Foster Wallace”, das der Rolling-Stone-Reporter David Lipsky (im Film gespielt von Jesse Eisenberg) nach dem Selbstmord des Schriftstellers David Foster Wallace verfasste. Lipsky hatte im Jahr 1996 Wallace (dargestellt von Jason Segel) für einige Tage auf dessen Werbetour für seinen erfolgreichen Roman INFINITE JEST begleitet, um eine Story über diesen von Kritikern als Genie gefeierten Autor zu schreiben.
Das Drehbuch stammt übrigens vom Pulitzer- Prize-Träger Donald Margulies.
Auch wenn die Familie von David Foster Wallace nicht ihr Okay zu dieser Verfilmung gegeben hatte (einige Familienmitglieder jedoch, nachdem sie den fertigen Film gesehen hatten, durchaus angetan gewesen sein sollen) und mancher, der Wallace gut gekannt hat, der Meinung sein mag, er sei in dem Film nicht gut getroffen, so ist es dennoch ein Film mit starken Dialogen der beiden Protagonisten, teils humorvoll, teils tief, über Themen wie das Schreiben, die „Droge“ Fernsehen, über Technik (und wie die zukünftige die Vereinsamung der Menschen vorantreiben werde), über Ruhm und über Aufrichtigkeit. Und das ist wirklich spannend anzuhören.
Dazu gibt der Film einen sehr guten Einblick in die schwierige Arbeit von Journalisten, genügend gehaltvollen Stoff für ihre Story zu erhalten. Auch wenn der Dargestellte diese Story vielleicht ganz anders haben möchte – aber auch der Journalist ist eben ein kreativer Verfasser, der SEINE Geschichten schreibt.
Auch der Soundtrack des Films ist schon ziemlich gut: R.E.M, Felt, Tracey Ullman, Brian Eno, Tindersticks (!) und ein Score von Danny Elfman.
In einem Interview mit Indiewire erzählte der Regisseur James Ponsoldt, warum sein Film kein David Foster Wallace Biopic sei. 

WAR BOOK (GB 2014) von Tom Harper
Einen vollen großen Saal im Abaton Kino gab es bei WAR BOOK, obgleich es schon die zweite Vorführung des Films beim Filmfest war. Neun Regierungsbeamte spielen drei Tage lang den Ernstfall eines möglichen Nuklearangriffs Pakistans auf Indien durch. Trotz des politischen Themas und einer Handlung, die nahezu nur in einem Raum spielt und fast ausschließlich aus Dialogen besteht (die haben es jedoch in sich) ein Publikumsmagnet (auch bei seiner internationalen Premiere beim International Film Festival Rotterdam kam der Film schon sehr gut beim Publikum an). Der Filmvorführung folgte ein sehr interessantes Q & A mit dem Regisseur Tom Harper. 
Gut:
SON OF SAUL (Ungarn 2015) von László Nemes 
SON OF SAUL ist ein raues und intensives Holocaust-Drama und Regiedebüt von László Nemes. Die Berlinale wollte diesen Film angeblich nicht ins Programm aufnehmen, das Filmfestival in Cannes tat es und dort erhielt der Film u.a. den Großen Preis der Jury. Mich hat an dem Film besonders beeindruckt, wie es Nemes gelingt, die industrielle Tötungsmaschinerie in Auschwitz-Birkenau darzustellen. Rein routinemäßig laufen die Vorgänge in den Gaskammern ab. Dass der ungarische Häftling Saul versessen darauf ist, für einen getöteten Jungen eine Rabbi zu finden, um ihn richtig bestatten zu können (wodurch er zudem einen geplanten Aufstand einiger Häftlinge gefährdet), war für mich jedoch nicht nachvollziehbar und hat den Gesamteindruck ein wenig geschmälert. Dieser Kunstgriff, dem Grauen im KZ eine (recht unsinnige) menschliche Geste gegenüberzustellen, hat mich persönlich nicht überzeugt.
Zum Nachlesen sei dennoch Peter Bradshaws Filmbesprechung in The Guardian empfohlen, nach dessen Auffassung es keinerlei Abstriche gibt. 
SON OF SAUL ist Ungarns Kandidat für den OSCAR in der Kategorie Bester Fremdsprachiger Film. Ich vermute jetzt mal, dass dieser Oscar nach Ungarn gehen wird.

IN JACKSON HEIGHTS (USA 2015) von Frederick Wiseman
Wieder einmal kommen in einer Wiseman-Doku alle möglichen Menschen zusammen, um für ihre Anliegen und Rechte einzustehen (er scheint dabei ein unverbesserlicher Optimist zu sein) - in diesem Fall im kulturell und ethnisch vielfältigen New Yorker Viertel Jackson Heights, in dem 167 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Es sind Einzelhändler, deren kleine Läden der Gentrifizierung zum Opfer fallen, lateinamerikanische Einwanderer, die sich nicht länger als Arbeiter ausbeuten lassen wollen, Homo- und Transsexuelle, die sich gegen ihre Diskriminierung wehren.
Es gibt keine Kommentierung, Wiseman lässt allein die Einwohner Jackson Heights‘ sprechen. Neben den o.g. Engagierten gibt es dann auch einige Frauen, die sich zum Stricken treffen und einfach nur miteinander plaudern, oder eine fast 100 jährige (reiche) Dame, die sich beklagt, dass sie eigentlich niemanden zum Sprechen habe, woraufhin sie von einer anderen Dame den Rat bekommt, sie solle jemanden dafür bezahlen, denn mit Geld könne man schließlich alles bekommen.
Ganz wundervoll, wie es Wiseman gelingt, dass seine Protagonisten einfach mal so und völlig authentisch miteinander über die Dinge sprechen, die sie bewegen, obgleich da doch irgendwo eine Kamera ist.
Ein wenig hätte ich mir bei diesem Film allerdings gewünscht, einfach mal die Bilder (länger) sprechen zu lassen, Impressionen einzufangen und das gesprochene Wort zurückzunehmen. Aber dann wäre es wohl kein Wiseman-Film mehr.
Ein ausverkauftes Haus im Metropolis Kino bei einem 190 Minuten langen Dokumentarfilm ist in jedem Fall eine ziemlich tolle Sache!
Eine Interview mit Frederick Wiseman zu IN JACKSON HEIGHTS kann man hier nachlesen: 

REMEMBER (Kanada 2015) von Atom Egoyan 
Ein großartiger Christopher Plummer als Auschwitz-Überlebendem Zev, der sich, mittlerweile fast 90 Jahre alt und an beginnender Demenz leidend, auf die Suche nach dem KZ-Wächter macht, der für den Tod seiner und der Familie seines Freundes Max (Martin Landau) verantwortlich zeichnet, um vielleicht die letzte verbleibende Gelegenheit zu nutzen, diese Verbrechen zu sühnen. Ein mehrseitiger Brief, geschrieben von Max, soll ihn immer wieder daran erinnern, was sein Auftrag ist.
In absehbarer Zeit werden das geschriebene Wort sowie Foto- und Filmaufnahmen die einzigen Zeugnisse des Holocaust sein, da uns dessen Überlebende und andere Zeitzeugen nicht mehr werden berichten können. Denn vergessen sollten wir nicht. Auch das sagt uns REMEMBER.
The Hollywood Reporter hat vor der Weltpremiere von REMEMBER bei den Filmfestspielen in Venedig ein Interview mit Atom Egoyan geführt. 
Auch wenn REMEMBER vielleicht nicht Egoyans THE SWEET HEREAFTER (Kanada 1997) und ARARAT (Kanada/Frankreich 2002) erreicht, war/ist der Film aber unbedingt einen Besuch wert. 
A PERFECT DAY (Spanien 2015) von Fernando Léon de Aranoa 
Fernando Léon de Aranoa erzählt in seinem Film A PERFECT DAY von einem Einsatz mehrerer Mitarbeiter einer humanitären Hilfsorganisation irgendwo im Balkan im Jahr 1995 zu Zeiten des sich dem Ende zuneigenden Krieges. Die Schwierigkeit ihrer Arbeit wird von einer gehörigen Portion Sarkasmus begleitet, der durchaus für eine Menge Lacher im Publikum sorgte, aber keineswegs die Kriegssituation und das Bemühen von engagierten Helfern verharmlost. Fernando Léon de Aranoa gab im Q & A nach der Filmvorführung im CinemaxX Dammtor dann auch an, er habe sich dem Thema mit (schwarzem) Humor nähern wollen.
Der Film wartet mit einem Staraufgebot auf, Benicio del Toro, Tim Robbins, Olga Kurylenko und Melanie Thierry, und wurde bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes vom Publikum begeistert gefeiert.
LES LOUPS (Kanada/Frankreich 2015) von Sophie Deraspe 
Eine junge Frau aus Montreal begibt sich in die Abgeschiedenheit der Magdalenen-Inseln, von den Einwohnern argwöhnisch beobachtet. Ist sie eine Journalistin oder eine Aktivistin, die ihre Robbenjagd ausspioniert? Auch für den Zuschauer bleibt die wahre Motivation lange unklar. Schön gefilmt und erzählt, wobei die dramatischen Momente dann vielleicht doch ein wenig zu undramatisch dargestellt sind.

LIEBSTER HANS, BESTER PJOTR (Russland/Deutschland 2015) von Alexander Mindadze 
Arthouse-Werk des russischen Regisseurs und Drehbuchautors Alexander Mindadze mit namhaften deutschen Darstellern wie Mark Waschke, Jakob Diehl, Birgit Minichmayr und Marc Hosemann.
Der Film basiert auf einem recht unbekannten Kapitel deutsch-sowjetischer Geschichte Ende der 1930er Jahre, als es kurzzeitig zu einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit des Deutschen Reiches mit der Sowjetunion kam: deutsche Technik im Austausch gegen sowjetische Ressourcen. Im Film arbeiten die deutschen Ingenieure in einem sowjetischen Betrieb an der Produktion hochpräzisen Glases für Linsen. Später wird einer von ihnen, Hans, als Wehrmachtsoffizier wieder an diesen Ort zurückkehren, wobei das Glas nochmals eine Rolle spielen wird.
Ein stilistisch mutiger und künstlerisch anspruchsvoller Film: Lange Einstellungen, Nahaufnahmen, häufig sieht man minutenlang nur Protagonisten, die in Räumen sitzen oder in Waggons stehen. Dazu liegen die Nerven der deutschen Ingenieure blank, da sie Schwierigkeiten haben, ihre Arbeit erfolgreich abzuschließen. Das führt zu recht theatralischen Ausbrüchen, über die Mark Waschke im Q&A angab, es habe ihm gefallen, so aus sich herausgehen zu können, wenn man sonst eher zurückgenommen Berliner Schule spiele.
LIEBSTER HANS, BESTER PJOTR ist keine leicht zu konsumierende Kost, Mindadze erklärt nichts, sondern verlässt sich auf seine Bilder und auf die Darstellungskraft der Schauspieler.
In Russland wurde LIEBSTER HANS, BESTER PJOTR zu einem der ersten Opfer der Zensurpolitik des Kulturministeriums und erhielt erst finanzielle Förderung, als Mindadze einige Änderungen am Drehbuch vorgenommen hatte.
Wer sich näher über die aktuelle russische Kulturpolitik informieren möchte, kann das hier in einem Artikel von epd-Film tun: 

MISTRESS AMERICA (USA 2015) von Noah Baumbach 
Nette Komödie über zwei junge Frauen in New York, die alle, die Frances Ha geliebt haben, ebenfalls lieben werden. Prima gespielt mit wirklich witzigen Momenten, jedoch nicht ganz mein Genre.

So lala:
JAMES WHITE (USA 2015) von Josh Mond 
Eine raue und emotionale Familiengeschichte, über einen Slacker, der Verantwortung übernehmen muss, als seine Mutter schwer erkrankt. Es geht um Wut, Schmerz, Trauer. Mich hat der Film aber nicht wirklich erreicht.
LE MIRAGE (Kanada 2015) von Ricardo Trogi 
Der Film war in Kanada außerordentlich erfolgreich, mich hat die Geschichte des wohlhabenden Geschäftsführers eines Sportsgeschäfts und scheinbar glücklichen Ehemanns und Vaters, der alles verliert, ziemlich kalt gelassen und die Protagonisten fingen mit der Zeit an, mir etwas auf die Nerven zu gehen.

Gar nicht mein Fall:
DIE DUNKLE SEITE DES MONDES (Deutschland 2015) von Stephan Rick 
Mein erster deutschsprachiger Film beim Filmfest Hamburg 2015. Und leider so gar nicht meins ….
Mein Fazit: Alles in allem ein sehr schönes Filmfest. Ich freue mich aufs Filmfest Hamburg 2016!

Alle Preisträger des Filmfest Hamburg 2015 kann man in dieser Pressemitteilung nachlesen.

(Regina Nickelsen)