Fünfzehn Filme sind es geworden, die ich mir beim Filmfest Hamburg 2015 ansehen
konnte, und die meisten davon haben mir gut bis sehr gut gefallen.
Ich kenne die offiziellen Zahlen noch nicht, glaube
jedoch, dass auch das diesjährige Filmfest äußerst gut besucht war. Ich habe
diverse komplett ausverkaufte Vorstellungen erlebt und viele Menschen vor und
in den Kinos gesehen. Sehr beeindruckend fand ich beispielsweise, dass
Frederick Wisemans 190 Minuten langer Dokumentarfilm IN JACKSON HEIGHTS über das New Yorker Viertel Jackson
Heights bei seinem zweiten Screening im Metropolis Kino komplett ausverkauft
war. Und das ist nur ein Beispiel dafür, wie attraktiv so ein Filmfestival sein
kann, wie es Menschen in Filme zieht, die sie sonst vielleicht niemals
angesehen hätten.
Die Programmauswahl des Filmfest Hamburg hat auch wieder
gestimmt, es war für jeden etwas dabei, von Filmen für echte Cineasten wie TRANSATLANTIC (eine
poetische Atlantiküberquerung auf einem Frachter von Felix Dufour-Laperriere)
sowie SAMURAY-S
des argentinischen Regisseurs Raúl Perrone bis hin zu den Fernsehproduktionen
in der Sektion 16:9,
eine sehr beliebte Sektion übrigens, wenngleich von mir nicht besucht.
Ein wenig enttäuscht war ich vom Angebot an
deutschsprachigen Produktionen, wofür das Filmfest Hamburg nicht verantwortlich
zeichnet, denn es scheint ganz allgemein ein eher schwaches Jahr für den
deutschen/deutschsprachigen Film zu sein, mit einigen Ausnahmen natürlich,
beispielsweise Andreas Dresens ALS WIR
TRÄUMTEN, den wir am 14.10. in unserer Filmreihe DaF
im Metropolis Kino zeigen werden. Beim Filmfest Hamburg haben wir leider nichts für DaF entdecken
können. Die Hoffnung, dass vielleicht die Verfilmung des Martin-Suter-Romans DIE DUNKLE SEITE DES MONDES in
Frage kommen könnte, hat sich leider zerschlagen, denn dieser Film ist nun
ausgerechnet der einzige meiner fünfzehn Filme, der mir so gar nicht gefallen
hat.
Einen Lieblingsfilm habe ich aber natürlich auch unter
meinen fünfzehn, und zwar MEMORIES OF
THE WIND/RÜZGARIN HATIRALARI (Türkei, Georgien, Deutschland, Frankreich
2015) von Özcan Alper. Die Geschichte des armenischen Dissidenten Aram, der zum
Ende des Zweiten Weltkriegs aus Istanbul fliehen muss und auf seinem Weg in die
Sowjetunion zunächst Unterschlupf bei einem Ehepaar in einer ländlichen Gegend
an der Grenze zu Georgien findet. Wunderschön gefilmt und vertont mit einer zeitlosen
Geschichte. Ich hoffe sehr, mehr Filme von diesem Regisseur entdecken zu
können.
Und das war meine Filmauswahl beim Filmfest Hamburg 2015.
Wenn man den Filmtitel anklickt, gelangt man auf den Filmeintrag im Archiv des
Filmfests, wo es mehr Informationen, Links, Fotos und die jeweiligen
Filmtrailer gibt.
Sehr gut:
MEMORIES OF THE WIND (Türkei, Georgia, D, F 2015) von Özcan Alper
MEMORIES
OF THE WIND ist die sehr schön gefilmte und ruhig
erzählte Geschichte eines armenischen Dissidenten, Oppositionellen, Malers und
Dichters namens Aram, der im Jahr 1943, als die Türkei mit Nazideutschland
kooperiert, Istanbul verlassen muss und in die Sowjetunion fliehen möchte. In
Rückblenden sehen wir Aram im Jahr 1915 als Jungen während des Genozids an den
Armeniern.
TRANSATLANTIQUE (Kanada
2014) von Felix Dufour-Laperriere
Poetischer Essay-Film gefilmt in Schwarzweiß auf einem
Frachter, der von Antwerpen nach Montreal fährt. Für den Zuschauer eine fast
meditative Reise über den Atlantik. Tolles Sound-Design und ebensolche Bilder.
Das habe ich schon in LEVIATHAN (USA
2012) von Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel genossen. Von Filmen dieser
Art hätte ich gern viel mehr!
LIFE ACCORDING TO AGFA (Israel 1992) von Assi Dayan
Ein in Schwarzweiß gedrehter Film, der in einer Bar in
Tel Aviv spielt. Die Gäste und Angestellte repräsentieren einen Mikrokosmos der
israelischen Gesellschaft. Ein wirklich toller Film, der in der Sektion Deluxe, der Länder-Retrospektive
ISRAEL, lief.
THE END OF THE TOUR (USA 2015) von James Ponsoldt
Der Film basiert auf
dem Buch “Although Of Course You End Up Becoming Yourself: A Road Trip with
David Foster Wallace”, das der Rolling-Stone-Reporter David Lipsky (im Film
gespielt von Jesse Eisenberg) nach dem Selbstmord des Schriftstellers David
Foster Wallace verfasste. Lipsky hatte im Jahr 1996 Wallace
(dargestellt von Jason Segel) für einige Tage auf dessen Werbetour für seinen erfolgreichen Roman INFINITE JEST begleitet, um
eine Story über diesen von Kritikern als Genie gefeierten Autor zu schreiben.
Das Drehbuch stammt übrigens vom Pulitzer- Prize-Träger
Donald Margulies.
Auch wenn die Familie von David Foster Wallace nicht ihr
Okay zu dieser Verfilmung gegeben hatte (einige Familienmitglieder jedoch,
nachdem sie den fertigen Film gesehen hatten, durchaus angetan gewesen sein
sollen) und mancher, der Wallace gut gekannt hat, der Meinung sein mag, er sei
in dem Film nicht gut getroffen, so ist es dennoch ein Film mit starken
Dialogen der beiden Protagonisten, teils humorvoll, teils tief, über Themen wie
das Schreiben, die „Droge“ Fernsehen, über Technik (und wie die zukünftige die
Vereinsamung der Menschen vorantreiben werde), über Ruhm und über
Aufrichtigkeit. Und das ist wirklich spannend anzuhören.
Dazu gibt der Film einen sehr guten Einblick in die
schwierige Arbeit von Journalisten, genügend gehaltvollen Stoff für ihre Story
zu erhalten. Auch wenn der Dargestellte diese Story vielleicht ganz anders
haben möchte – aber auch der Journalist ist eben ein kreativer Verfasser, der
SEINE Geschichten schreibt.
Auch der Soundtrack des Films ist schon ziemlich gut:
R.E.M, Felt, Tracey Ullman, Brian Eno, Tindersticks (!) und ein Score von Danny
Elfman.
In einem Interview mit Indiewire erzählte der Regisseur
James Ponsoldt, warum sein Film kein David Foster Wallace Biopic sei.
WAR BOOK
(GB 2014) von Tom Harper
Einen vollen großen Saal im Abaton Kino gab es bei WAR BOOK, obgleich es schon die zweite
Vorführung des Films beim Filmfest war. Neun Regierungsbeamte spielen drei Tage
lang den Ernstfall eines möglichen Nuklearangriffs Pakistans auf Indien durch.
Trotz des politischen Themas und einer Handlung, die nahezu nur in einem Raum
spielt und fast ausschließlich aus Dialogen besteht (die haben es jedoch in
sich) ein Publikumsmagnet (auch bei seiner internationalen Premiere beim
International Film Festival Rotterdam kam der Film schon sehr gut beim Publikum
an). Der Filmvorführung folgte ein sehr interessantes Q & A mit dem
Regisseur Tom Harper.
Gut:
SON OF SAUL (Ungarn 2015) von László Nemes
SON
OF SAUL ist ein raues und intensives Holocaust-Drama und
Regiedebüt von László Nemes. Die Berlinale wollte diesen Film angeblich nicht
ins Programm aufnehmen, das Filmfestival in Cannes tat es und dort erhielt der
Film u.a. den Großen Preis der Jury. Mich hat an dem Film besonders
beeindruckt, wie es Nemes gelingt, die industrielle Tötungsmaschinerie in Auschwitz-Birkenau
darzustellen. Rein routinemäßig laufen die Vorgänge in den Gaskammern ab. Dass
der ungarische Häftling Saul versessen darauf ist, für einen getöteten Jungen
eine Rabbi zu finden, um ihn richtig bestatten zu können (wodurch er zudem einen
geplanten Aufstand einiger Häftlinge gefährdet), war für mich jedoch nicht
nachvollziehbar und hat den Gesamteindruck ein wenig geschmälert. Dieser
Kunstgriff, dem Grauen im KZ eine (recht unsinnige) menschliche Geste
gegenüberzustellen, hat mich persönlich nicht überzeugt.
Zum Nachlesen sei dennoch Peter Bradshaws Filmbesprechung
in The Guardian empfohlen, nach dessen Auffassung es keinerlei Abstriche gibt.
SON
OF SAUL ist Ungarns Kandidat für den OSCAR in der Kategorie Bester Fremdsprachiger Film.
Ich vermute jetzt mal, dass dieser Oscar nach Ungarn gehen wird.
IN JACKSON HEIGHTS (USA 2015) von Frederick Wiseman
Wieder einmal kommen in einer Wiseman-Doku alle möglichen
Menschen zusammen, um für ihre Anliegen und Rechte einzustehen (er scheint
dabei ein unverbesserlicher Optimist zu sein) - in diesem Fall im kulturell und
ethnisch vielfältigen New Yorker Viertel Jackson Heights, in dem 167
verschiedene Sprachen gesprochen werden. Es sind Einzelhändler, deren kleine
Läden der Gentrifizierung zum Opfer fallen, lateinamerikanische Einwanderer,
die sich nicht länger als Arbeiter ausbeuten lassen wollen, Homo- und
Transsexuelle, die sich gegen ihre Diskriminierung wehren.
Es gibt keine Kommentierung, Wiseman lässt allein die
Einwohner Jackson Heights‘ sprechen. Neben den o.g. Engagierten gibt es dann
auch einige Frauen, die sich zum Stricken treffen und einfach nur miteinander
plaudern, oder eine fast 100 jährige (reiche) Dame, die sich beklagt, dass sie
eigentlich niemanden zum Sprechen habe, woraufhin sie von einer anderen Dame den
Rat bekommt, sie solle jemanden dafür bezahlen, denn mit Geld könne man
schließlich alles bekommen.
Ganz wundervoll, wie es Wiseman gelingt, dass seine
Protagonisten einfach mal so und völlig authentisch miteinander über die Dinge
sprechen, die sie bewegen, obgleich da doch irgendwo eine Kamera ist.
Ein wenig hätte ich mir bei diesem Film allerdings
gewünscht, einfach mal die Bilder (länger) sprechen zu lassen, Impressionen
einzufangen und das gesprochene Wort zurückzunehmen. Aber dann wäre es wohl kein
Wiseman-Film mehr.
Ein ausverkauftes Haus im Metropolis Kino bei einem 190
Minuten langen Dokumentarfilm ist in jedem Fall eine ziemlich tolle Sache!
Eine Interview mit Frederick Wiseman zu IN JACKSON HEIGHTS kann man hier nachlesen:
REMEMBER
(Kanada 2015) von Atom Egoyan
Ein großartiger Christopher Plummer als
Auschwitz-Überlebendem Zev, der sich, mittlerweile fast 90 Jahre alt und an
beginnender Demenz leidend, auf die Suche nach dem KZ-Wächter macht, der für
den Tod seiner und der Familie seines Freundes Max (Martin Landau)
verantwortlich zeichnet, um vielleicht die letzte verbleibende Gelegenheit zu
nutzen, diese Verbrechen zu sühnen. Ein mehrseitiger Brief, geschrieben von Max, soll ihn immer wieder daran
erinnern, was sein Auftrag ist.
In absehbarer Zeit werden das geschriebene Wort sowie
Foto- und Filmaufnahmen die einzigen Zeugnisse des Holocaust sein, da uns
dessen Überlebende und andere Zeitzeugen nicht mehr werden berichten können.
Denn vergessen sollten wir nicht. Auch das sagt uns REMEMBER.
The Hollywood Reporter hat vor der Weltpremiere von REMEMBER bei den Filmfestspielen in
Venedig ein Interview mit Atom Egoyan geführt.
Auch wenn REMEMBER
vielleicht nicht Egoyans THE SWEET HEREAFTER (Kanada 1997) und ARARAT
(Kanada/Frankreich 2002) erreicht, war/ist der Film aber unbedingt einen Besuch
wert.
A PERFECT DAY (Spanien 2015) von Fernando Léon de Aranoa
Fernando Léon de Aranoa erzählt in seinem Film A PERFECT DAY von einem Einsatz
mehrerer Mitarbeiter einer humanitären Hilfsorganisation irgendwo im Balkan im
Jahr 1995 zu Zeiten des sich dem Ende zuneigenden Krieges. Die Schwierigkeit
ihrer Arbeit wird von einer gehörigen Portion Sarkasmus begleitet, der durchaus für eine Menge Lacher im Publikum
sorgte, aber keineswegs die Kriegssituation und das Bemühen von engagierten
Helfern verharmlost. Fernando Léon de Aranoa gab im Q & A nach der
Filmvorführung im CinemaxX Dammtor dann auch an, er habe sich dem Thema mit
(schwarzem) Humor nähern wollen.
Der Film wartet mit einem Staraufgebot auf, Benicio del
Toro, Tim Robbins, Olga Kurylenko und Melanie Thierry, und wurde bei den
diesjährigen Filmfestspielen in Cannes vom Publikum begeistert gefeiert.
LES LOUPS (Kanada/Frankreich 2015) von Sophie Deraspe
Eine junge Frau aus Montreal begibt sich in die
Abgeschiedenheit der Magdalenen-Inseln, von den Einwohnern argwöhnisch
beobachtet. Ist sie eine Journalistin oder eine Aktivistin, die ihre Robbenjagd
ausspioniert? Auch für den Zuschauer bleibt die wahre Motivation lange unklar.
Schön gefilmt und erzählt, wobei die dramatischen Momente dann vielleicht doch
ein wenig zu undramatisch dargestellt sind.
LIEBSTER HANS, BESTER PJOTR (Russland/Deutschland 2015) von Alexander
Mindadze
Arthouse-Werk des russischen Regisseurs und
Drehbuchautors Alexander Mindadze mit namhaften deutschen Darstellern wie Mark
Waschke, Jakob Diehl, Birgit Minichmayr und Marc Hosemann.
Der Film basiert auf einem recht unbekannten Kapitel
deutsch-sowjetischer Geschichte Ende der 1930er Jahre, als es kurzzeitig zu
einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit des Deutschen Reiches mit der Sowjetunion kam: deutsche Technik im
Austausch gegen sowjetische Ressourcen. Im Film arbeiten die deutschen
Ingenieure in einem sowjetischen Betrieb an der Produktion hochpräzisen Glases
für Linsen. Später wird einer von ihnen, Hans, als Wehrmachtsoffizier wieder an
diesen Ort zurückkehren, wobei das Glas nochmals eine Rolle spielen wird.
Ein stilistisch mutiger und künstlerisch anspruchsvoller
Film: Lange Einstellungen, Nahaufnahmen, häufig sieht man minutenlang nur
Protagonisten, die in Räumen sitzen oder in Waggons stehen. Dazu liegen die
Nerven der deutschen Ingenieure blank, da sie Schwierigkeiten haben, ihre
Arbeit erfolgreich abzuschließen. Das führt zu recht theatralischen Ausbrüchen,
über die Mark Waschke im Q&A angab, es habe ihm gefallen, so aus sich
herausgehen zu können, wenn man sonst eher zurückgenommen Berliner Schule
spiele.
LIEBSTER
HANS, BESTER PJOTR ist keine leicht zu konsumierende Kost,
Mindadze erklärt nichts, sondern verlässt sich auf seine Bilder und auf die
Darstellungskraft der Schauspieler.
In Russland wurde LIEBSTER
HANS, BESTER PJOTR zu einem der ersten Opfer der Zensurpolitik des
Kulturministeriums und erhielt erst finanzielle Förderung, als Mindadze einige
Änderungen am Drehbuch vorgenommen hatte.
Wer sich näher über die aktuelle russische Kulturpolitik
informieren möchte, kann das hier in einem Artikel von epd-Film tun:
MISTRESS AMERICA (USA 2015) von Noah Baumbach
Nette Komödie über zwei junge Frauen in New York, die
alle, die Frances Ha geliebt haben, ebenfalls lieben werden. Prima gespielt mit
wirklich witzigen Momenten, jedoch nicht ganz mein Genre.
So lala:
JAMES WHITE (USA 2015) von Josh Mond
Eine raue und emotionale Familiengeschichte, über einen
Slacker, der Verantwortung übernehmen muss, als seine Mutter schwer erkrankt.
Es geht um Wut, Schmerz, Trauer. Mich hat der Film aber nicht wirklich erreicht.
Der Film war in Kanada außerordentlich erfolgreich, mich
hat die Geschichte des wohlhabenden Geschäftsführers eines Sportsgeschäfts und
scheinbar glücklichen Ehemanns und Vaters, der alles verliert, ziemlich kalt gelassen
und die Protagonisten fingen mit der Zeit an, mir etwas auf die Nerven zu
gehen.
Gar nicht mein Fall:
DIE DUNKLE SEITE DES MONDES (Deutschland 2015) von Stephan Rick
Mein erster deutschsprachiger Film beim Filmfest Hamburg
2015. Und leider so gar nicht meins ….
Mein Fazit: Alles in allem ein sehr schönes Filmfest. Ich
freue mich aufs Filmfest Hamburg 2016!
(Regina Nickelsen)